INTERVIEW MIT KURT KARDINAL KOCH

Juli 2016

Pfarrer Manfred Deselaers: Papst Johannes Paul II hat bei seinem Besuch in Auschwitz im Jahr 1979 gesagt, „Ich konnte als Papst unmöglich nicht hierherkommen“; Papst Benedikt XVI hat diese Worte für sich selbst bei seinem Besuch in Auschwitz im Jahr 2006 wiederholt. Jetzt kommt auch Papst Franziskus auf dem Weg zum Weltjugendtag 2016 nach Auschwitz. Warum ist dieser Ort für die Kirche so wichtig?

Kurt Kardinal Koch: Der mit industrieller Perfektion organisierte Massenmord an den europäischen Juden war ein Verbrechen gegen die Menschheit und eine schwere Sünde gegen Gott. Daran muss immer wieder erinnert werden, damit sich Ähnliches nicht wiederholt. Die Besuche der verschiedenen Päpste wollen diese Erinnerung wach halten und auch ein Zeichen der solidarischen Verbundenheit mit dem jüdischen Volk setzen. Angesichts von neu aufkommenden antisemitischen Wellen mahnt Papst Franziskus immer wieder, dass es unmöglich ist, zugleich Christ und Antisemit zu sein.

Wir begehen zurzeit das Jahr der Barmherzigkeit. Wie können wir im Blick auf Auschwitz von der Barmherzigkeit Gottes reden? Wo war der barmherzige Gott in Auschwitz?

Im Evangelium vom Weltgericht (Mt 25) sagt Jesus, dass Menschen ihm begegnet sind, wenn sie Hungernde gesättigt, Dürstenden zu trinken gegeben und Gefangene besucht haben. Jesus solidarisiert sich nicht nur, sondern identifiziert sich mit den Ärmsten und Leidenden. Im Glauben dürfen wir deshalb annehmen, dass der barmherzige Gott auch in Auschwitz gegenwärtig gewesen ist und das schreckliche Leiden so vieler Juden mitgelitten hat. Davon dürfen wir überzeugt sein, weil auch in der Hölle von Auschwitz so viele Juden nach Gott geschrien und seine Barmherzigkeit gesucht haben.

Bei seinem Besuch in Auschwitz 2006 hat sogar Papst Benedikt gesagt: „Immer wieder ist da die Frage: Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen?“ Einer der anwesenden jüdischen Gäste sagte anschließend, er könne diese Frage nach Gott nicht mehr hören. Die richtige Frage sei, wo waren damals die Menschen, wo war die Kirche? Was sagen Sie dazu?

Genau diese Frage hat Papst Franziskus bei seinem Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gestellt: „Wo bist du, o Mensch? Wohin bist du gekommen?“ Und: „wir hören diese Frage Gottes wieder erschallen: „Adam, wo bist du?“ In der Tat müssen wir angesichts von Auschwitz die Frage nach dem Menschen, ja die Frage Gottes nach dem Menschen stellen. Aber wir dürfen und müssen auch die Frage nach Gott und seinem Schweigen stellen. Denn der Holocaust ist von einer gottlosen Verbrecherbande durchgeführt worden und hat gezeigt, wohin der Mensch kommt, wenn er Gott verneint und sich an die Stelle Gottes setzt. Die Nationalsozialisten wollten auch Gott töten. Dagegen müssen wir uns mit aller Kraft wehren.

Die meisten Opfer von Auschwitz waren Juden, über 90 Prozent, aber es gab auch viele tausend nicht jüdische Opfer: Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und viele andere. Die Ideologie der Nazis war rassistisch und auch antichristlich. Warum ist „nach Auschwitz“ der christlich-jüdische Dialog so wichtig? Geht es nicht einfach um menschliche Grundfragen, die alle Völker betreffen?

Der christlich-jüdische Dialog ist nicht erst „nach Auschwitz“ wichtig. Denn mit dem Judentum haben wir Christen eine einmalige Beziehung wie mit keiner anderen Religion. Dies hat der heilige Papst Johannes Paul II. während seines Besuchs der römischen Synagoge am 13. April 1968 mit klaren Worten ausgesprochen: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äusserliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Innern‘ unserer Religion“. Nach Auschwitz aber ist dieser Dialog noch wichtiger geworden, weil mit dem Holocaust auch wir Christen mitbetroffen sind und uns die Frage stellen müssen: Warum ist der Widerstand der Christen gegen die Ausrottung der Juden nicht so stark gewesen, wie man mit Recht hätte erwarten dürfen und müssen? Es versteht sich aber von selbst, dass wir an alle Menschen denken, die in Auschwitz umgebracht worden sind.

Papst Benedikt ging damals schweigend und allein durch die Gedenkstätte Auschwitz. In Birkenau begann er seine Rede mit den Worten: "An diesem Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte, zu sprechen, ist fast unmöglich [...] An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen..."; Papst Franziskus hat nun angekündigt, er wolle bei seinem Besuch in Auschwitz keine Rede halten, sondern allein schweigen und um die Gabe der Tränen bitten. Sollten wir zum Thema Auschwitz nicht besser überhaupt schweigen?

Der Anblick des Grauens von Auschwitz verschlägt einem die Sprache und zwingt zum Schweigen. Dies bedeutet aber gerade nicht, dass wir nicht über Auschwitz reden sollten. Sonst würden wir die Opfer des Holocaust ganz dem Vergessen anheim geben und sie so nochmals um ihren Namen bringen. Sie müssen vielmehr erinnert werden. Wichtig ist aber, dass das Reden über Auschwitz aus einer schweigenden Betroffenheit und damit in Ehrfrucht gegenüber den Opfern erfolgt. Ihnen schulden wir unser Erinnern. Das Sprechen von Papst Benedikt XVI. in Auschwitz war deshalb so überzeugend, weil es aus seinem schweigenden Gehen durch die Gedächtnisstätte heraus entstanden ist.

Der Weltjugendtag ist ein Fest der internationalen Begegnungen, der gegenseitigen jugendlichen Ermutigung, der Freude mit viel Gesang und Tanz. Stört da die Erinnerung an die Grausamkeiten von Auschwitz nicht? Sollte man das nicht besser trennen: jetzt das Fest, ein anderes Mal die Trauer?

Auschwitz kann man nicht begreifen. Es stört und ver-stört uns Menschen immer. Und wer jeden Tag die Nachrichten hört, der erfährt, dass in unserer Welt viel Gutes geschieht, über das wir uns freuen dürfen, dass aber auch viel Grausamkeit und Terror an der Tagesordnung ist. Wir werden mit beidem konfrontiert und können es nicht voneinander trennen. Wirklich freuen kann sich ein Mensch ohnehin nur, wenn er dem Traurigen nicht ausweicht. Die Tränen der Freude und die Tränen des Schmerzes entstammen demselben Quellwasser der Seele. Ich bin überzeugt, dass Papst Johannes Paul II., der den Weltjugendtag begründet hat, dies auch so sehen und gewiss auch Auschwitz besuchen würde.